Arbeiten für das Reich. Die Organisation Todt in Frankreich und Italien, 1940–1945

Dissertation von Fabian Lemmes am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, 2009, Betreuer: Prof. Dr. Heinz-Gerhard Haupt (Universität Bielefeld)

Die Organisation Todt war eine „der bedeutendsten Sonderorganisationen des Hitler-Staates“ (Martin Broszat) und dessen zentrales Instrument zur Durchführung kriegswichtiger Bauprojekte. 1938 von Fritz Todt als Leitstelle für den Westwallbau geschaffen, verlagerte sie nach Kriegsbeginn ihre Aktivitäten in die besetzten Länder. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Ausführung von Infrastrukturarbeiten im Dienste der Wehrmacht, darüber hinaus konnte sie ihre Zuständigkeit für Baumaßnahmen in den besetzten Gebieten wie auch im Reich sukzessive erweitern. Sie war durch ihre Arbeiten im Bereich der militärischen, zivilen und industriellen Infrastruktur eine wesentliche Stütze der deutschen Kriegführung.

Für die Organisation Todt – kurz: OT – bauten europaweit Tausende deutscher und ausländischer Bauunternehmen. Auf ihren Baustellen arbeiteten mehr als 1,5 Millionen Menschen, zumeist Arbeitskräfte aus den besetzten Gebieten, vor allem freiwillige oder zwangsverpflichtete Zivilarbeiter, aber auch Kriegsgefangene und (KZ-)Häftlinge. Die Geschichte der Organisation Todt ist damit mehr als nur die einer Bauorganisation. Sie ist verflochten mit zahlreichen Grundfragen der nationalsozialistischen Herrschaft und der deutschen Besatzung in Europa: der Struktur der Okkupationsregime, der wirtschaftlichen und personellen Ausbeutung der besetzten Länder, deren Position innerhalb der nationalsozialistischen „Neuen Ordnung“ und des europäischen „Großwirtschaftsraums“, dem Verhältnis zwischen staatlichmilitärischer Administration und Privatwirtschaft, den Arbeitsbeziehungen und der Rolle von Zwangsarbeit in Hitlers Europa, den Arbeits- und Lebensbedingungen unter deutscher Besatzung, Kollaboration und Widerstand einheimischer Behörden, Firmen und Individuen und den vielfältigen Grauzonen dazwischen.

Die OT wurde bisher vornehmlich unter militärgeschichtlichen Gesichtspunkten untersucht. Die Dissertation will dagegen einen Beitrag zur Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft, zur Geschichte der europäischen Gesellschaften im Zweiten Weltkrieg und zur Zwangsarbeiterforschung leisten. Während der „Ausländereinsatz“ in der deutschen Kriegswirtschaft seit Ulrich Herberts grundlegender Arbeit von 1985 und insbesondere seit Beginn der Entschädigungsdebatte für zentrale Bereiche untersucht worden ist, stellt der (Zwangs-)Arbeitseinsatz im besetzten Europa nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar. Dabei kommt den Baumaßnahmen der Organisation Todt eine besondere Bedeutung zu. Untersucht werden diese vergleichend für Frankreich und Italien – zwei Fälle, die große strukturelle Ähnlichkeiten (Kollaborationsparadigma, Struktur der Besatzungsverwaltungen), zugleich aber auch signifikante Unterschiede aufweisen (Italiens Status als „besetzter Verbündeter“ seit September 1943, unterschiedliche Arbeitsmarktstruktur und militärische Situation).

Wie gelang es der Besatzungsmacht, in diesem Umfang Arbeitskräfte und Unternehmen in den besetzten Gebieten für ihre Zwecke einzuspannen? Die dieser mise au travail zugrunde liegenden Mechanismen für den Bereich der Organisation Todt zu bestimmen, ihre Reichweite und Grenzen aufzuzeigen, ist Ziel der Untersuchung. Dabei wird nach Steuerung, Anreizen und Zwangsmitteln seitens deutscher und einheimischer Behörden ebenso gefragt wie nach Handlungsspielräumen, Reaktionsweisen, Verhaltensstrategien und -logiken der betroffenen Akteure, insbesondere der einheimischen Arbeiter und Unternehmen. Das historische Phänomen ,Arbeiten für die Besatzungsmacht‘ lässt sich nur durch das Zusammenspiel und die Wechselwirkung beider Faktorenbündel verstehen und erklären.

Die Geschichte der Organisation Todt wird folglich nicht als die eines Bunkerbauers, sondern als die eines Akteurs in der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Sphäre verstanden, der mit staatlichen und militärischen Behörden, Privatunternehmen und lokalen Bevölkerungen interagierte. Entsprechend erfolgt der Vergleich zwischen den Entwicklungen in Frankreich und Italien anhand dreier Untersuchungsschwerpunkte:

(1) Administrativ und organisationsgeschichtlich (OT und Besatzungsherrschaft): Welche Rolle spielte die Organisation Todt als Organ der Besatzungsmacht im Rahmen der besatzungspolitischen Polykratie?

(2) Ökonomisch und unternehmensgeschichtlich (OT und Privatwirtschaft): Welche Einflussmöglichkeiten hatte die private Bauwirtschaft im Rahmen der Tätigkeit der OT in den besetzten Gebieten? Welche Rolle spielten die großen deutschen Baufirmen, welche Rolle spielte die Kollaboration der französischen und italienischen Bauindustrie? Welchen Einfluss konnten die Firmen auf die Rekrutierung und auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter nehmen?

(3) Sozialgeschichtlich (OT und Arbeitseinsatz): Inwiefern beruhte der Einsatz bei der OT auf Zwang? Welche Anreize bot die OT? Ging es nichtdeutschen Arbeitskräften bei der OT in Frankreich bzw. Italien besser oder schlechter als ausländischen ArbeiterInnen im Deutschen Reich? Dahinter steht zum einen die Frage nach den Arbeitsbeziehungen in den besetzten Ländern; zum anderen, damit zusammenhängend, die Frage, in welchem Maße Formen von Zwangsarbeit nicht nur innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches, sondern auch in den besetzten Gebieten für die Zwecke der Besatzungsmacht praktiziert wurden.

Beantwortet werden diese Fragen auf der Grundlage deutscher, französischer und italienischer Archivquellen.

 

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