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Rainer Hudemann: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945–1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz (v. Hase & Koehler) 1988, XV, 621 S. (=Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Bd. 10), ISBN 3-7758-1177-X.

Die französische Deutschland- und Besatzungspolitik nach 1945 ist von Beginn an durch die Ambivalenz von Sicherheitspolitik und wirtschaftlicher Nutzung einerseits, von „Demokratisierungspolitik“ und Völkerverständigung andererseits geprägt gewesen. Am Beispiel der Sozialpolitik wird in diesem Buch gezeigt, dass Neuordnungsansätze in der französischen Politik ein stärkeres Gewicht hatten, als unter dem Eindruck des Nachkriegselends und des vielfach harten Auftretens der Besatzungsmacht von den meisten Zeitgenossen, und in ihrer Folge auch von der Forschung, gesehen wurde. Solche Neuordnungsansätze wurden oft auch dann durchgesetzt, wenn sie den ökonomischen Interessen der Besatzungsmacht zuwiderliefen. Damit erfährt die französische Politik im Nachkriegsdeutschland eine grundsätzliche Neubewertung. Ein besonderes Interesse der Arbeit gilt den Gründen für die Unterschiede in der Perspektive der Zeitgenossen und der jetzt verstärkt anlaufenden Forschung, welche die einzelnen Komponenten der Entwicklung in der Zone ausgewogener herausarbeiten kann; zu wesentlichen Teilen sind die Gründe in den ökonomischen, sozialen und politischen Nachwirkungen der Wirtschafts- und Finanzpolitik des „Dritten Reiches“ in der Schwarzmarkzeit zu suchen.

In ihren Neuordnungssätzen, die im Ziel einer „Entmilitarisierung“ und „Demokratisierung“ der deutschen Gesellschaft mit der Sicherheitspolitik teilweise durchaus vereinbar waren, gingen die Franzosen erheblich weiter als Briten und Amerikaner in ihren Zonen. Dabei hielten sie sich – entgegen dem verbreiteten Bild von einer französischen „Obstruktionspolitik“ – insgesamt auch wesentlich enger an die Planungen und Beschlüsse des Alliierten Kontrollrates in Berlin, als bislang bekannt war. Den Verflechtungen der politischen Entscheidungsebenen in Paris, Berlin, Banden-Baden und den deutschen Ländern wird in diesem Buch, für das deutsche und französische Akten erstmals in gleichermaßen breitem Umfang zugänglich wurden, ebenso nachgegangen wie den Handlungsspielräumen deutscher Politik und den Einflussmöglichkeiten außerstaatlicher politischer Kräfte in Deutschland. Deutsch-französische Interaktionsmuster verliefen bereits im Sommer 1945 zum Teil quer zu dem Schema: Besatzungsmacht gegen deutsche Politik. Gewerkschaftliche Kräfte konnten beispielsweise erheblichen Einfluss auf die Sozialversicherungsreform erhalten, mit der die Franzosen im April 1946 einige grundlegende soziale Ungerechtigkeiten im deutschen Sozialleistungssystem zu beseitigen versuchten und unter anderem die in der deutschen Geschichte einzige regional gegliederte Einheitskrankenkasse auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik errichteten. Die soziale Selbstverwaltung wurde 1947/48 in der französischen Zone auf Drängen der Militärregierung mit einer relativ starken Arbeitnehmervertretung wiederhergestellt, während Sozialwahlen in den Ländern der britischen und amerikanischen Zone bis 1953 blockiert blieben.

In der Kriegsopferversorgung lagen die Leistungen im Südwesten nicht über dem Niveau der in die Darstellung einbezogenen anderen Zonen, sondern teilweise noch über dem Niveau des Bundesversorgungsgesetzes von 1950; dabei erhielten die Kriegsopferverbände, deren Verbandsgeschichte gleichfalls zonenübergreifend untersucht wird, einen relativ großen, wenngleich nach Ländern unterschiedlichen Einfluss. Konzeptionell knüpfte das Versorgungssytem der Bundesrepublik an die Lösungen der französischen Zone an. Manche Strukturmaßnahmen, welche die Franzonen bereits 1945/46 genehmigten oder selbst durchsetzten, scheiterten in der Bizone noch 1949 am Veto der Alliierten. Insgesamt hatte die deutsche staatliche und außerstaatliche Politik in der Besatzungszeit größere Wirkungsmöglichkeiten, als die deutschen Verwaltungen es darstellten; selbst Einsprüche der Militärregierung gegen Landtagsentscheidungen erfolgten zum Teil unter deutschem Einfluss.

Einige Ziele der Reformen im Südwesten wurden nach der Gründung der Bundesrepublik auch dann, wenn die Maßnahmen selbst wieder zurückgenommen wurden, auf anderem Wege erreicht, vor allem in der Annäherung der Lebensbedingungen von Arbeitern und Angestellten; hier war der Südwesten den übrigen Teilen der Bundesrepublik um einige Jahre voraus. Andere Probleme, um deren Lösung die Besatzungsmacht sich 1945–1949 bemühte, sind – etwa im Gesundheitswesen – bis heute nicht befriedigend bewältigt.

In ihren Inhalten und Zielen unterschied die französische Deutschlandpolitik nach 1945 sich damit grundlegend von der Politik nach dem Ersten Weltkrieg und stellte trotz aller Härten bereits in den ersten Nachkriegsjahren auch wesentliche Weichen für einen Wandel im gegenseitigen Verhältnis der beiden Länder, der im öffentlichen Bewusstsein erst erheblich später deutlich wurde.


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